Extrembergsteiger. Allroundalpinist. Bergführer.

Winter.Abenteuer LALIDERER

Erstbegehungen im Jänner 1964

 

VOM 5. BIS 6. JÄNNER 1964 durchstieg ich zusammen mit Rolf Walter die legendäre, äußerst schwierige Nordverschneidung VI+ an der 850 Meter hohen Laliderer-Nordwand, und nur drei Wochen später, vom 25. bis 27. Jänner 1964, die Direkte Nordwand an der Lalidererspitze im Schwierigkeitsgrad VI.

 

Vorbereitungen & Durchführung

Nach all den gelungenen großen Touren in den Dolomiten und Westalpen hatte ich für die Klettersaison 1963 unter anderem eine Erstbegehung im Karwendel-Gebirge geplant. Es kam jedoch anders : Ende Juni war für das Wochenende Schlechtwetter angesagt, so fuhr ich mit drei anderen nach der Arbeit nach Lans, um ein Lauftraining zu absolvieren. Danach wollte ich mich abkühlen. Ein nicht sichtbarer Pfahl dürfte es gewesen sein, der mir beim Kopfsprung in den Lanser See eine zwölf Zentimeter große Rissquetschwunde an der Schädeldecke und eine Halswirbelspaltung bescherte, und damit auch das Aus für einen vielversprechenden Klettersommer 1963. Trotz Gipsmanschette fing ich nach zwei Monaten mit einem leichten Training an, und verlagerte das Klettern auf Herbst und Winter. Meine erste Klettertour nach dem Unfall unternahm am 1. September:  die Südwand-Direttissima VI- an der Scharnitzspitze.

Von nun da an kletterten Rolf Walter und ich nahezu jedes Wochenende bis zum 31. Dezember 1963, und dabei gelang uns so manche Winter-Erstbegehung.

 

Bereits im Jänner wagten wir uns an das bisher Größte und Schwierigste, das je in Österreich geklettert wurde. Auch bei unseren schwierigsten Unternehmungen blieben wir dem alpinen, klassischen Stil treu. Expeditionsstil, Hilfsmannschaften, 200-Meter-Seile zur Versorgung mit Getränken und Essen oder gar eine Rettungsmannschaft mit Stahlseil am Gipfel standen für uns nie zur Diskussion.

 

 

Durchsteigung der Nordverschneidung VI+ an der 850 Meter hohen Laliderer-Nordwand

Vom 5. bis 6. Jänner 1964 durchstieg ich mit Rolf Walter die legendäre, äußerst schwierige Nordverschneidung VI+ an der 850 Meter hohen Laliderer-Nordwand. Nur Peter, der uns mit seinem VW ins Risstal fuhr, wusste über unser Vorhaben Bescheid. Von da an waren wir von der Außenwelt abgeschnitten und konnten uns vollkommen auf unser Tun konzentrieren. Sobald wir Hand an den Fels gelegt hatten, beschäftigten wir uns ohnehin nur noch mit dieser gewaltigen Wand und unserem Weiterkommen. Gleich nach der äußerst schwierigen Durchsteigung kam uns in der Biwaknacht auf dem Gipfel der Lalidererspitze der Gedanke, uns auch an der Direkten Nordwandführe Rebitsch-Spiegl-Rainer (Erstbesteigung Sommer 1946) zu versuchen. Gesagt, getan!

 

3 WOCHEN SPÄTER: Vom 25. bis 27. Jänner 1964 - Durchsteigung der Direkten Nordwand an der Lalidererspitze im Schwierigkeitsgrad VI

Bereits drei Wochen nach der Durchsteigung der Nordverschneidung waren Rolf Walter und ich wieder unterwegs zur Falkenhütte. Die einzige Hilfe, die wir für dieses Unternehmen in Anspruch nahmen, war die von Peter, der uns nach Arbeitsschluss mit seinem VW nach Hinterriss brachte. Schon hier erkannten wir, dass in der Zwischenzeit nördlich der Kalkalpen mehr Schnee gefallen war als drüben im Inntal. Nachdem wir uns von Peter verabschiedet hatten, stiegen wir mit unseren schwer bepackten Rucksäcken über die Engalm und das Hohljoch zur Falkenhütte auf.

Knietiefer Pulverschnee erschwerte unser Weiterkommen und erst nach Mitternacht erreichten wir das Joch, wo wir uns die erste Rast gönnten. Vor uns zeichnete sich die erhabene Silhouette der Lalidererwände ab. Langsam verschwand der Mond hinter dem Grat, weitab in das Johannistal fielen die Schatten dieser riesigen Wand. Erst jetzt wurde uns die Abgeschiedenheit bewusst. Die Kälte drang durch unsere Kleidung und ermahnte uns zum Weitergehen. Die Hütte lag zwar zum Greifen nahe, aber die steilen schneebedeckten Schutthalden am Fuße der Grubenkarspitze, Dreizinkenspitze und Lalidererwand machten uns noch schwer zu schaffen. Oft sanken wir zwischen Felsblöcken bis über die Hüften in den lockeren Schnee ein. Die Füße fanden keinen festen Halt und der Rucksack brachte uns ständig aus dem Gleichgewicht. So wühlten wir uns förmlich auf allen vieren durch den Schnee und erreichten erst um 3 Uhr morgens die Hütte.

 

Ohne Druck von außen

An ein Einsteigen in die Wand war an diesem Tag nicht mehr zu denken. Vorerst wollten wir nichts anderes als  schlafen. Der Winterraum bot uns dazu den nötigen Schutz. Schier oder Schneereifen hätten uns diesen Anstieg bedeutend erleichtert, aber die guten Schneeverhältnisse während des Anstiegs zur Nordverschneidung verleiteten uns, auch diese Hilfsmittel noch einzusparen. Diese Entscheidung „kostete“ uns einen Tag, der nicht eingeplant war. Am Nachmittag erwachten wir mit einem Riesenhunger. Unser Proviant war knapp für drei Tage kalkuliert, und hätte ich nicht schleunigst aus Restbeständen, hartem Brot, ranziger Margarine und etwas Speck eine "üppige" Suppe gekocht, so wäre es Rolf sicherlich nicht schwer gefallen, unseren Proviant schon vorzeitig zu verzehren. Zum Einstieg legten wir noch eine Spur und erkundeten mit all unseren Sinnen den Anstieg durch diese gewaltige Mauer aus Fels und Schnee. Kein Wind, kein Stein, kein Lebewesen störte die Stille. Ich verspürte viel Freude und Kraft in mir, aber auch Ehrfurcht und Angst machten sich breit. Wir fragten uns nicht, warum wir uns eigentlich dazu entschlossen hatten, sondern freuten uns einfach über unser Tun.

 

Es gab keinen Druck von außen, denn hinter uns standen weder Presse noch Firmen oder Sponsoren, und es wusste auch nur ein kleiner Freundeskreis von unserem Unternehmen. Für uns zählte allein das Erlebnis, das Abenteuer. Deshalb lehnten wir auch jede störende äußere Einflussnahme ab. Vielleicht gab uns das die nötige Kraft? Am liebsten wären wir gleich eingestiegen, aber vorerst hinderte uns die aufkommende Nacht daran. Lange Zeit lagen wir wach und unterhielten uns über dies und jenes, jede Einzelheit besprachen wir, aber so manche Frage blieb auch offen. Ich war sehr müde geworden, wollte schlafen und versuchte meine Gedanken zu verdrängen, die Spannung in mir war jedoch viel zu groß, ich lag wach und wartete ungeduldig auf den Morgen. Zum Packen gab es bei uns nicht viel, unsere Rucksäcke waren klein, die Ausrüstung glich etwa der für eine Westalpentour im Sommer. Um 8 Uhr standen wir am Einstieg. Zwei 40-Meter-Seile verbanden uns für die kommenden Tage und Nächte. Es war uns bewusst, dass wir von außen keine Hilfe erwarten konnten, wir beherrschten aber die behelfsmäßige Bergrettungstechnik für einen eventuellen Rückzug. Das war für uns schon immer oberstes Gebot in der Auseinandersetzung zwischen Natur und Mensch.

Rolf ging die erste Seillänge an. Zwei aufeinanderfolgende, senkrechte Verschneidungen bildeten die Einleitung, diese sahen von unten nicht so übel aus, aber das hieß noch garnichts!

 

 „Der erste Haken, bin am Stand!“

Der Fels war abschüssig, brüchig und schneebedeckt. Bei jedem Schritt und Tritt fiel von oben Schnee auf meinen Kopf. Nur langsam glitten die Seile durch meine Hände. Die Bewegung wurde gestoppt, ich rief „Rolf, wie geht’s?“ – „Gut!“, war die Antwort. – Ruckartig bewegten sich wieder die Seile, dann kam der Ruf: „Der erste Haken, bin am Stand!“  Die Kälte hatte mittlerweile völlig meinen Körper durchdrungen. Rolf nahm das Seil ein, ich zog die Handschuhe aus und stieg nach. Mich fror an den Fingern, bald verspürte ich überhaupt kein Gefühl mehr und hing ganz gotterbärmlich in der senkrechten zweiten Verschneidung. Die Griffe waren glatt und teilweise vereist, der Rucksack zog mich hinaus und ich fand kaum noch Halt. Wie mochte Rolf ohne Zwischensicherung hier nur hinaufgekommen sein? „Rolf, gib Zug!“, waren die einzigen Worte, die ich noch hervorbrachte. Ein guter Griff rettete mich aber aus dieser unguten Lage. Am Standplatz angekommen, versuchte ich erst einmal meine Finger aufzuwärmen. Sie schmerzten, bald begann auch das Blut darin zu kochen. Langsam wich jedoch der Schmerz, und Wärme und Gefühl kehrten wieder zurück.

Dann war ich an der Reihe. Es folgte ein etwa Zehn-Meter-Linksquergang auf einer geneigten Platte, die mit zirka fünfzehn Zentimetern Schnee bedeckt war. Langsam und vorsichtig tastete ich mich an kleinen Griffen und Tritten hinüber. Kostbare Zeit ging bei der Schneeräumung verloren, aber damit mussten wir uns bei diesem Unternehmen abfinden. Erfreut legte ich den ersten Zwischenhaken vom Schnee frei, hängte mein Seil ein und umging einen abweisenden Überhang. Ein senkrechter Riss leitete zum nächsten Stand. Rolf folgte nach, auch er hatte jetzt Probleme mit seinen Fingern. Langsam gewöhnten wir uns an die Schwierigkeiten, den Schnee und die Kälte, und rangen dieser Wand – in abwechselnder Führung – Seillänge um Seillänge ab.

Um die Mittagszeit des ersten Tages kletterten wir links der gelben Wandausbrüche an brüchiger, teils überhängender Wand empor. Trotz der klettertechnischen Schwierigkeiten empfanden wir in diesem von Schnee und Eis freigebliebenen Wandabschnitt die Kletterei als angenehm. Ein überaus schwieriger Seilquergang nach links brachte uns wieder in verschneites Gelände. Auf einem Pfeilerkopf beschlossen wir unser Biwak zu beziehen. Mit dem Kochtopf gruben wir uns dann ein tiefes Loch in den Schnee, stülpten uns den Biwaksack über und verbrachten hier unsere erste Nacht. Rolf trug zwei Pullover, darüber einen Anorak, und ich – was für ein Luxus! – einen Dralon-Steppanorak. Bitterkalt kündigte sich der Morgen an, der zweite Klettertag konnte beginnen. Heiße Ovomaltine brachte uns wieder auf die Beine. Weiter draußen im Alpenvorland leuchteten die Gipfel im ersten Sonnenlicht. Nur im Hochsommer, wenn die Sonne am höchsten steht, fallen hier einzelne Strahlen ein. Die Natur war hier öde, zum Träumen blieb kein Raum, die Wand hielt uns in ihrem Bann. Sie verlangte höchste Konzentration von uns. Wir kamen gut voran, auch wenn die folgenden Seillängen es in sich hatten.

In überaus schwieriger, freier Kletterei erreichten wir den Kopf des berüchtigten, brüchigen Pfeilers.

Hier versperrte uns ein von der großen Schlucht herabhängender Eiswulst den Weiterweg. An seiner linken Seite entdeckte ich eine Möglichkeit, durch Anbringen einiger Haken die überhängende Wandstelle zu überwinden. Die sonst glattgescheuerte Schlucht war mit Schnee aufgefüllt, was uns ermöglichte, rasch höherzukommen.

 

Die anschließend schneebedeckten, abschüssigen Steilrinnen, kleingriffigen Quergänge, brüchigen Risse und Verschneidungen kletterten wir durchwegs ohne Zwischensicherungen und in absolut freier Kletterei.

Die wenigen Tagesstunden zu dieser Jahreszeit vergingen viel zu schnell. Vor Einbruch der Dämmerung befanden wir uns am Fuß der beiden auffallenden Pfeiler im oberen Wandteil. Die Suche nach einem Biwakplatz wurde akut. Mit erhöhtem Risiko kletterten wir in der Dämmerung schleunigst die Kamin- und Rissreihe hinauf und erlebten oben eine bittere Enttäuschung. Nur eine schmale Leiste von etwa einem halben Meter Breite bot uns notgedrungen Platz für die zweite Nacht.

Bild:  Unser erster Biwakplatz

Eine nicht enden wollende Nacht

Bei völliger Dunkelheit suchten wir nach Rissen, um unseren letzten Haken für die Selbstsicherung in den Fels zu treiben. Alles Material wurde sorgfältig fixiert, den leeren Rucksack banden wir mittels Reepschnur an der unteren Kante unserer Sitzgelegenheit fest, steckten die Füße in den frei über den Abgrund baumelnden Rucksack und versuchten uns in dieser Stellung von den Strapazen zu erholen.

Lange noch schmolzen wir Schnee für Tee und Suppe, aßen, plauderten und versuchten damit die Nacht zu verkürzen. Schließlich stülpten wir den Biwaksack über, um uns  vor Kälte und Wind noch mehr zu schützen. Bald überwältigte mich der Schlaf, aber die Kälte und die unangenehme Sitzstellung ließen das nicht lange zu. Uns  beiden fror an den Füßen und bald am ganzen Körper.

 

Diese nicht enden wollende Nacht  wurde zur größten Qual für uns. Schon früh am Morgen bereiteten wir uns das Frühstück zu. Die Auswahl war sehr klein, denn der Proviant war beinahe aufgebraucht.

 

Endlich begann es zu dämmern und wir verließen schwerfällig und unbeweglich den Biwakplatz. Etwa zweihundert Höhenmeter der Wand waren noch zu bewältigen.

Ein größerer Überhang und die darauffolgende senkrechte, vereiste Verschneidung zeigten uns nochmals, was die Wand zu bieten hatte. Nahezu zwei Stunden rang ich dieser Seillänge Meter für Meter ab. Oben angelangt, war ich am Ende meiner Kräfte. Rolf kam nach und wir waren überglücklich, die größten Schwierigkeiten hinter uns zu wissen. Gleich wurden wir jedoch eines Besseren belehrt, denn ab hier neigte sich die Wand zwar etwas zurück, aber dafür lag mehr Schnee!

 

Den Berg im völligen Einklang mit der Natur erleben

Der darunterliegende Fels war kleingriffig, brüchig und zudem hakenabweisend. Während Rolf kletterte, ging der Schnee meist von selbst in Form von Lawinen ab. Verzweifelt versuchte er einen Haken zu setzen, nach vierzig Meter war das Seil aus. Ich musste nun nachkommen. Dasselbe Spiel wiederholte sich in der nächsten Seillänge. Physisch waren wir zwar noch in der Lage, solche Passagen zu klettern, psychisch überschritten wir jedoch schon längst unsere Grenzen. Endlich konnten wir den ersten Sicherungshaken anbringen. Die Wand bäumte sich noch einmal vor uns auf und nach eineinhalb Seillängen erreichten wir den Grat. Die letzten Meter dieser Wand hatten uns alles abverlangt. Der Zeitbegriff war uns verlorengegangen. Um 5 Uhr abends standen Rolf und ich am Gipfel der Lalidererspitze. Während der Nacht noch stiegen wir durch tiefen Schnee in das Hinterautal ab. Völlig erschöpft mussten wir uns am frühen Morgen für ein paar Stunden in einer Wildfütterung nahe der Pürsch-Hütte ausruhen. Es war ein überwältigendes Gefühl,  den Berg im völligen Einklang mit der Natur erlebt zu haben!"

Bild: Am Tag 3 nahe dem Gipfel

27.  Jänner 1964

Kommentare zur Winter-Erstbegehung der

Direkten Laliderer-Nordwand

 

Reinhold Messner vermerkte dazu: „Ich will mich hier auf einige Persönlichkeiten beschränken, die sich vor allem dem Winteralpinismus gewidmet haben, sowie auch einige Begehungen erwähnen, die durch ihren Stil auffielen.

Zwei Winterbegehungen, die in aller Stille und Bescheidenheit durchgeführt worden sind und einem Vergleich mit der Civetta-Nordwand standhalten, sind die Direkte Nordwand an der Lalidererspitze und die Rebitsch-Verschneidung an derselben Wand.

In vorbildlichem, klassischem Stil lösten Helmut Wagner und Rolf Walter beide diese Winterprobleme. Wagner ist Angestellter beim ÖAV, Rolf Walter ist Turnlehrer, beide gehören zu den Karwendlern in Innsbruck, einem Club, der immer für höchstes Niveau bürgte.“ (In: Die Extremen – Fünf Jahrzehnte sechster Grad. Reinhold Messner, Domenico Rudatis und Vittorio Varale. BLV München, 1974, S. 111-112)

 

Im „Alpenvereinsjahrbuch“ von 1981 war auf Seite 40 zu lesen: „Das Winterklettern: Hier klaffen große Kontraste zwischen ‚konventionellem‘ und ‚Sonderspiel‘ und es zeigt sich, wie weit die Einzelelemente des Spektrums Bergsteigen und Klettern auseinanderliegen können: Auf der einen Seite die hoch- und höchstentwickelte Sportkletterei im VII., VIII. und IX. Schwierigkeitsgrad bei gezielter Ausschaltung jeglichen Risikos. Auf der anderen Seite bewusst risikoträchtiger Winteralpinismus mit körperlichen und psychischen Höchstleistungen, wie z. B. die Durchsteigung der Direkten Lalidererspitze Nordwand durch Helmut Wagner und Rolf Walter vom 25. bis 27. Jänner 1964.“